Theaterarbeit ist seit einigen Jahren an der Kasseler Jean-Paul-Schule fester Bestandteil im Schulalltag. In der 11. Klasse und in der Abschlussklasse (Jg.13) werden große Theaterprojekte umgesetzt. Die Arbeit - gerade mit den Schülern einer Sonderschuleš, mit ihren ganz spezifischen Problemen - erweist sich dabei immer mehr als Glücksfall. Anfängliche Skepsis - darf man wertvolle Schulzeit 'verschenken', um künstlerisch derart ausgiebig (6 Wochen intensive, fast ganztägige Probenarbeit) zu agieren - ist dank vieler gelungener Projekte mit sichtbaren Gewinn für Schule und Schüler einer große Anerkennung gewichen, die Elternschaft, Kollegium und Mitschüler gleichermaßen teilen.
In diesem Jahr hat sich die Abschlussklasse ein Stück ausgesucht, das thematisch an den Geschichts- und Deutschunterricht anknüpft. Wolfgang Borcherts berühmtes Kriegsheimkehrerdrama 'Draußen vor der Tür' wurde in einer ganz eigenen Version auf die Bühne gebracht (siehe Videoaufzeichnung der Aufführung).
Was geschieht mit einem Menschen, der in einen Krieg hineingerät, welche seelischen Wunden bleiben, kann es ein 'normales' Leben danach überhaupt noch geben?
Borcherts Stück, das viele Parallelen zu seinem eigenen Leben aufweist, ist ein einziger Schrei, der immer noch eine große Wucht, eine beklemmenden Kraft besitzt. Ein Schrei, der gehört werden muss, auch heute, gerade von jungen Menschen, weil er eine hoffnungslose Situation dokumentiert, die nicht wiederkehren darf.
Interessant war die Reaktion der Schüler auf Borcherts große Distanz zu den überkommenen Männlichkeitsidealen, auf seinen bedingungslosen Pazifismus sowie auf die brutal und schonungslos gestellte Frage, nach dem Sinn und Ziel des Lebens. Interessant war für die Schüler zweifelsohne auch die Gegenüberstellung mit einer gleichaltrigen Generation »ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied«. Was bedeutet es, wenn ein junger Mensch folgendes Fazit ziehen muss: »Unsere Sonne ist schmal, unsere Liebe grausam und unsere Jugend ist ohne Jugend.«
Anstelle von einer belehrenden, 'Erhobenen-Zeigefingerpädagogik', mit der die Kriegs- und Nachkriegszeit im Unterricht landauf landab besprochen wird, wurde durch die Umsetzung des Stückes durch das Eintauchen der Schüler in die Rollen (bei weitem nicht nur diejenige des Kriegsheimkehrers Beckmann war wichtig, auch und gerade die vielen Figuren, die die grausame Zeit abschütteln und weitermachen, als sei nichts geschehen) echtes Verständnis, aufrichtige Empathie, wirkliche Betroffenheit erzeugt, die sich dann auch auf das begeisterte Publikum übertrug.
Bei der künstlerischen Umsetzung haben wir das surreale Element des Stückes noch weiter betont, indem wir traumartige Sequenzen mit poetischen Bildern koppelten (ein traurig-melancholischer Weißclown begleitet Beckmann und den Anderen, ein verführerischer Tod, eine Frau im roten Abendkleid, lauert allgegenwärtig, fährt den weinerlicher, ohnmächtigen Gott des Stückes auf einer Bahre hinaus oder türmt die Mäntel der toten Soldaten zu einem anwachsenden Kleiderberg auf, der an die fatalen Bilder aus den KZs erinnern soll).
Eine ergreifende und lohnende Theaterarbeit, die Lehrern, Schülern und Publikum gleichermaßen noch lange in Erinnerung bleiben wird. Die Frage Beckmanns »gibt den keiner, keiner Antwort?«, die unerwidert bleibt, lässt sich aber vielleicht mit einem anderen Zitat Borcherts ergänzen: »...Denn das ist unser Deutschland. Und das wollen wir lieben, wir, mit verrostetem Helm und verlorenem Herzen hier auf der Welt. Doch, doch: Wir wollen in dieser wahn-witzigen Welt noch wieder, immer wieder lieben!«
Die Mitwirkenden ... Beckmann / Yorick Tortochaux, Gott / Florian Reichholt, Beerdigungsunternehmer / Korbinian Böttcher, Elbe / Katharina Ronthaler, Clown / Jonas Jungschaffer, Der Andere / Alexander Deutsch, Mädchen / Raina Radke, Einbeiniger / Christopher Wloka, Oberst / Korbinian Böttcher, Seine Frau / Yvonne Schubert, Seine Tochter / Raina Radke, Sein Schwiegersohn / Marian Höhle, Direktor / Christopher Wloka,
Herr Kramer / Florian Reichholt, Frau Kramer / Laura Hermann, Tod / Laura Hermann, Soldaten / Johannes Höft, Andreas Weiß und Florian Vollmer
Regie: Michael Pohlner, Wolfgang Rauchbach | Kostüme: Natascha Hartung | Beleuchtung: Johannes Bauer | Bühnenbild: Dieter Förster